Tessenows „Hausbau und dergleichen“: Völkisches Arbeiten „für Großes und Hohes“

Aus heutiger Sicht klingt es paradox„, beschreibt Eberhard Wiens in seinem Artikel: „Vom Gartenhaus (Goethes) nach Buchenwald„, „dass sich Architekten und Planer verschiedenster Richtungen vor dem Ersten Weltkrieg einig darin waren, mit neuer Architektur zu einer Sozialreform beizutragen. Alle waren Lebensreformer und jugendbewegt. Man fand sich 1907 im „Werkbund“ zusammen. Das Wohnungselend durch Zustrom der Massen in die Städte war herkömmlich nicht mehr zu bewältigen. Eklektizismus und Historismus überdeckten das Elend, indem sie artifizielle Ornamente an die Fassaden klebten.

Während aber die eine Gruppe zur (November-)Revolution und zur internationalistischen Neuen Sachlichkeit vorwärtsstürmte, machte die andere Gruppe die Rolle rückwärts über den Historismus hinweg und landete beim Baustil um 1800. Mehr Stadt war ihnen das falsche Rezept. Die giftgeschwängerte Atmosphäre des städtischen Sündenbabels hatte die Heimat verschandelt und vernichtet. Biedermeierliche Beschaulichkeit und bäuerliche Bescheidenheit, Sinnbilder der Epoche des Klassizismus, waren ihre Quelle, aus der sie die Wiederauferstehung der verlorenen Heimat schöpften. Sie verstanden darunter nicht eine getreue Reproduktion oder Konservierung des alten Stils, sondern eine vorsichtige Adaption.“ (ebd.)

Tessenows herablassende Beurteilung zu den modernen Strömungen der Architektur des beginnenden 20. Jahrhunderts

„…Ein Kind ist sehr wohl schöpferisch; aber seine Schöpfungen haben nur Augenblickswert. … Wir haben uns während dieser Zeit, durchaus kindlich, ohne nennenswerte Hemmungen für alles interessiert, haben wirklich alles hergenommen und alles wieder liegengelassen, uns war beinahe nichts mehr heilig, …“ (Tessenow, „Hausbau und dergleichen mehr“, Einleitung).

Frühzeitig kämpfte er gegen das „Vielfältige“ an und forderte „Typisierung“, am besten landauf, landab, mit dem beginnenden Geruch einer „Gleichschaltung“, wie sie gerne später von den Nazis aufgegriffen wurde:

„Wenn wir uns bisher um die Förderung des Gewerblichen (gemeint ist die Priorisierung des Handwerklichen, statt Verkünstelung) besonders mühten, so handelte es sich in Hundert Fällen neunzigmal um irgendwelche Feinheiten oder Eigenheiten, wir glaubten dann gerne, sehr unschuldig, als sei alles notwendige Erste oder Grobe schon sehr gründlich und schön erledigt; aber gerade dort fehlte es uns; wir hatten überall kleine Fundamente und bauten überall Kleines darauf, sozusagen bei uns hatte jeder sein kleines Privatfundament“. (ebd.)

Völkisches Arbeiten „für Großes und Hohes“

Dem setzt Tessenow bereits 1916, also bereits 6 Jahre nach Fertigstellung der jüdischen Landwirtschaftsschule in Steinhorst, das „völkische Arbeiten“ für „Großes und Hohes“ entgegen im Sinne einer völkischen Kultur:

„Heute aber suchen wir das breite und starke Fundament zu bilden, das unser Gesamtarbeiten trage, damit es sich zu einem Großen und Hohen ausbaue. Und damit beginnt uns eine zweite Periode völkischen Arbeitens. und erst nachdem wir uns dort hineingelebt haben werden, kann uns das immer wieder ersehnte dritte oder künstlerische Zeitalter kommen.…Wir werden sehr viel erfahren, dass uns die Zeichen betrogen haben, die uns in jüngerer Zeit viel Künstlerisches und Großkünstlerisches versprachen;das Trügerische liegt hier sehr nahe, weil alles Künstlerische unter anderem auch sehr kindlich ist, und da wir heute sehr viel Kindliches zu sehen bekommen, so ist es sehr leicht, an viel Künstlerisches zu glauben, um so leichter, da wir es so gerne haben möchten …“ (Tessenow, „Hausbau und dergleichen mehr“, Seite 7).

Tessenow genügte die Zurückweisung des Kindlichen nicht. Es musste schon das Männliche in schönen Uniformen und Stiefeln sein.

Auch die Frauen waren Tessenow zu kindlich

Auffällig ist, dass sich in den Immatrikulationslisten keine weiblichen Namen finden: Nahm Tessenow – anders als zuvor in Wien, wo Margarete Lihotzky (später Schütte-Lihotzky) seine prominenteste Studentin gewesen war – keine Frauen zum Studium an?

In Dresden war u.a. Konrad Wachsmann sein Schüler. Er berichtete von einer Stuhlanfertigung als Aufnahmeprüfung, die ihm eher wie die Prüfung der Handwerkskammer vorkam. Und er erinnerte sich an Tessenows Idee einer Handwerkergemeinde „die unter Leitung eines Meisters zusammen arbeiten, in einem Haus leben und am gleichen Tisch essen. Eine Großfamilie, in der es für Frauen keinen Platz gab.“ [Wachsmann, S. 121]

Frauen wies Tessenow jedoch aus einer konservativen Grundhaltung heraus zum „Eigenschutz“ einen traditionellen, eher passiven Part im Hintergrund zu. Aktive Mitglieder durften sie jedenfalls nicht werden“. (ebd.)

Heimat- und Naturschutz als Rückwendung in den biedermeierlichen Feudalismus

Einerseits wollten Heimat- und Naturschutz die Fesseln und Schnörkel des wilhelminischen Zeitalters durch eine Lebensreform abstreifen, andererseits fielen sie, weil die Industrialisierung ihnen in die Quere kam, in die Phantasmagorie (Trugbild) eines biedermeierlich gemilderten Feudalismus zurück. Paul Schultze-Naumburg, Mitbegründer sowohl des „Deutschen Bundes Heimatschutz“ (1904) als auch des Werkbundes, ... stieß am weitesten in die Extreme vor. 1902 veröffentlichte er „Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung“. Das große emanzipatorische Thema war die Befreiung der Frau vom Korsett. Die Reformkleider fielen weich und locker.

26 Jahre später verglich er in Wort und Bild die Malerei der Moderne mit pathologischen Deformationen. Die schmierige Welt aus verbogenen Leibern sei die „rohe Andeutung vertierten Untermenschentums“. Das war die exakte Vorlage für die Ausstellung „Entartete Kunst“, die 1937 folgen sollte. Schultze-Naumburg synthetisiert Kunst und Leben zu einem Menschenideal, das unmittelbar zu realisieren sei. Wer nicht in diesen Begriff von Schönheit passt, ist auszumerzen. Dem entsprach Hitlers Selbstbild: Der Künstler als Politiker – und Feldherr. Aus der Person wird ein Gesamtkunstwerk ohne Widerspruch.1930 fuhr Schultze-Naumburg fort: Zur „artgemäßen“ Heimat gehört die „Ausmerzung des Lebensuntauglichen“. Sie sind Fremdkörper.“ (Bernhard Wiens, „Vom Gartenhaus nach Buchenwald“)

Geschichtslose Typisierung übertragbar auf andere (besetzte) Orte

Soweit ist Tessenow nie gegangen, obwohl er in dem Architektenstreit eine führende Rolle auf Seiten der Traditionalisten einnahm. – Aber es half nichts. Als die Nazis hochkamen, ging es um mehr als nur Sattel- oder Flachdächer. Es ging um Blut und Boden. Der für den besetzten Osten zuständige Landschaftsarchitekt Heinrich Wiepking-Jürgensmann schrieb: „Die Morde und Grausamkeiten der ostischen Völker sind messerscharf eingefurcht in den Fratzen ihrer Herkommenslandschaften.“ Ganz anders die Physiognomie derjenigen Häuser, in die sich die germanischen Eigenschaften eingeschrieben haben. Sie sind verwurzelt in der Landschaft, in der die Blutlinien der germanischen Rasse verlaufen.

Mit Tessenows „völkische(m) Arbeiten„, um ein „breite(s) und starke(s) Fundament zu bilden, das unser Gesamtarbeiten trage, damit es sich zu einem Großen und Hohen ausbaue,“ fügten sich seine Vorstellungen nahtlos in die rabiaten imperialistischen Pläne des NS-Regimes ein. Denn „in der Stereotypie der Siedlungen und Häuser ist das Verfahren der Abstraktion von historischen Formen auf die Spitze getrieben. Die Typisierung, die dabei herauskommt, ist geschichtslos und übertragbar auf andere Orte. Das ist der logische Grund der Wahnidee vom tausendjährigen Reich. Seine reale Wirkung ist die Zerstörung traditioneller und regionaler Verschiedenheit.“ (Bernhard Wiens, „Vom Gartenhaus nach Buchenwald“).