Hatte Tessenow womöglich „Dreck am Stecken“ (Frage von Bürgermeister Percy Pfeiff)? – Viel schlimmer, er orchestrierte im Hintergrund umfassend die anti-moderne völkische „Rolle rückwärts“, die den Nazis später sehr zupass kam!

So oder so bedienten die agro-romantisierenden Traditionalisten, aus der Deckung der Heimatschutzbewegung und des Werkbundes heraus, und noch verstärkt im deutschen Architektenstreit zwischen Moderne und völkisch reaktionärer „Rolle rückwärts“ (Dr. Bernhard Wiens), das Verlangen des Nationalsozialismus nach einer „germanischen Kultur“ und arisch-darwinistischen Selektion, die das NS-Regime mit „Blut und Boden“-Vorstellungen verwebte, und als „seine“ ideologische Basis für seinen antisemitischen Vernichtungsfeldzug und Angriffskrieg vorgab.

Den von uns aufgeworfenen Widerspruch der Denkmalpflege, gleichzeitig und gleichberechtigt den um Freiheit und Aufklärung ringenden Juden Alexander Moritz Simon neben dem Mitglied der „unersetzlichen“ Funktionselite der Nazis, Heinrich Tessenow, setzen zu wollen, würdigte der Steinhorster Bürgermeister, Percy Pfeiff (CDU) ungläubig, auch „ohne genauem Befassen mit den Untersuchungen“ von EM Euro Medical, in etwa so: „Wenn der Dreck am Stecken haben sollte, geht das natürlich nicht“. Etwas differenzierter, aber dennoch milde, urteilt das Dresdner Stadtmuseum nun etwas aufgeklärter als bei Ausstellungsstart: „Während der NS-Zeit verhielt er sich relativ unauffällig – biederte sich nicht an, opponierte aber auch nicht. Auch ohne NSDAP-Mitgliedschaft konnte er weiterhin als freier Architekt praktizieren und stand auf der „Gottbegnadeten-Liste“ von Joseph Goebbels„. – Wie hat er das nur für sich und sein Umfeld folgenlos geschafft?

Kein Widerstand gegen Juden diskriminierende Nazi-Weisungen

Zu viel weitreichenderen Ergebnissen kommt Corinna Isabel Bauer in ihrer Dissertation: „Bauhaus- und Tessenow-Schülerinnen – Genderaspekte im Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne“, Inaugural-Dissertation im Fachbereich Architektur – Stadtplanung – Landschaftsplanung der Universität Kassel“. Dort schreibt die Autorin: „Auch gewannen wir den Eindruck, dass von den beiden Professoren der TU-Berlin Charlottenburg, Poelzig und Tessenow, kein nennenswerter Widerstand gegen Juden diskriminierende Nazi-Weisungen zu erwarten war. … Auch wenn das Seminar selbst nicht der Ort politischer Agitation war und Tessenow sich dezidiert politischen Stellungnahmen enthielt, so bot doch gerade dieser – im Spektrum der Entwurfsseminare – vermeintlich apolitische Rahmen auch gegenüber AnhängerInnen der ‘neuen Bewegung’ (der NSDAP) entsprechend großzügige Toleranz„.
Bauer schreibt weiter: „Bei zunehmender Politisierung der TH Charlottenburg kennzeichnete eine unentschieden abwartende Skepsis anscheinend die Haltung der meisten Verantwortlichen innerhalb der Architekturfakultät. Sowohl bei der Entlassung jüdischer Kollegen 1933 wie der zunehmenden Verschärfung der Studienbedingungen für jüdische Studierende übten sich die etablierten Architekturprofessoren bestenfalls in vornehmer Zurückhaltung.“ (ebd.).

Jüdische Gedichtmanuskripte von Camill Hoffmann vor dessen Deportation ins KZ Theresienstadt an Tessenow verschickt: Annahme verweigert!

In der Ausstellungs-Website des Dresdner Stadtmuseums erfahren die Besucher dann doch noch etwas mehr über Tessenows Haltung gegenüber den verfolgten Juden: „Er habe die politischen Ereignisse mit Distanz beobachtet„, und sei sogar als »Kommunistenfreund« und »Judenknecht« angefeindet worden. „Der Jude Camill Hoffmann, einige Jahre Feuilletonredakteur der Dresdner Neuesten Nachrichten, würde das vermutlich nicht bestätigen, denn als er vor seiner Deportation nach Theresienstadt seine Gedichtmanuskripte zur Aufbewahrung an Tessenow schickte, soll der die Annahme verweigert haben“ (Dresdner Stadtmuseum)..

Tessenow als findiger Strippenzieher im Hintergrund des Architektenstreits

Unter dem Titel „Hausbau und dergleichen…“ berichteten wir bereits über Tessenows führende Rolle im deutschen Architektenstreit, in dem die reaktionäre Heimatschutzbewegung und auch der Werkbund – beiden gehörte Tessenow mit beachtlichem Einfluss an – die späteren Nazi-Positionen antizipierte mit der Intention: „Rolle rückwärts in das Jahr 1800!“.

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Organisierten sich die führenden Vertreter der avantgardistischen „Moderne“ im „Ring“, dem sich Tessenow zunächst als „Vermittler“ anschloss, gründete der Rechtsaußen Schmitthenner der Stuttgarter Schule die Gegenvereinigung „Der Block“. Tessenow mischte in dem Architektenstreit kräftig mit, ohne allerdings in den Block überzutreten und verfolgte offensichtlich die Strategie, die Auflösung des „Rings“ von innen heraus zu betreiben.

So musste sich Schmitthenner von Tessenow später vorhalten lassen, dass seine (Tessenows) eigenen Bemühungen um eine „Selbstauflösung“ des „Ring“ durch die Block-Gründung (sogar) durchkreuzt worden seien.“ (Wolfgang Voigt, „Paul Schmitthenner im Architektenstreit in den 20er bis 50er Jahren“, S. 70, http://beta.voigt-architektur.com/wp-content/uploads/2019/10/WolfgangVoigt-Paul-Schmitthenner-im-Architekturstreit-der-zwanziger-bis-f%C3%BCnfziger-Jahre.pdf ).


Tessonows freundschaftliche Nähe zu Schmitthenner und sein Vertrauen in dieses NSDAP-Mitglied blieb dennoch ungebrochen, als dieser bereits auf direktem Weg war, sich den Nazis als Chefarchitekt anzudienen. Denn für die nationalsozialistische Kulturpropaganda war Schmitthenner, ganz ähnlich wie
Tessenow, gerade wegen deren vorgeblich unabhängigen Haltungen interessant. Deshalb begrüßten die Leute um den NS-Kulturführer Rosenberg „jede Persönlichkeit, jede Leistung, die den Kampf für die deutsche Sache führt, wenn sie auch außerhalb unserer engeren Kampfgemeinschaft steht oder scheinbar noch verkettet ist mit international eingestellten Interessen- und Intelligenzkreisen“ (ebd.).

52 Professoren treten 1932 für die Wahl der NSDAP ein – Tessenow ermutigt den Nazi-Architekten Schmitthenner zu einer führenden politischen Position im NS-Kulturregime.


„Im Juli 1932 ging Schmitthenner noch einen Schritt weiter und unterzeichnete, gemeinsam mit 51 anderen Professoren, kurz vor den Reichstagswahlen einen in der Presse abgedruckten Wahlaufruf: ‚Deutsche Geisteswelt für den Nationalsozialismus‘.

Die Reaktionen auf dessen Bekenntnis waren zwiespältig: „Für Martin Wagner (SPD,Stadtbaurat und Architekt) war er ein „Konjunkturritter“, während Heinrich Tessenow ihm noch am Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler versicherte, dass er seinen Schritt in die Politik … heute übrigens für sehr richtig halte“. (Dito. S. 74). – Die Rolle des Chefarchitekten Hitlers wurde allerdings, nach einem Rückzieher Schmitthenners, tatsächlich von dem Tessenow-Schüler Albert Speer eingenommen.