Wie der Vorsitzende der Tessenow-Gesellschaft, Theodor Böll, die Aufklärung über Tessenows ideologische Verwandtschaft mit dem NS seit 1991 unter der Decke hielt und damit den Beispiel gebenden jüdischen Freiheitskampf Simons, seiner Stiftung und Schulen subtil desavouierte. – Ging ihm auch die Denkmalpflege auf den Leim?

Funktioniert so Erinnerungskultur gegen den Antisemitismus, um Folgegenerationen für die Verteidigung demokratischer Freiheiten zu festigen und gegen Rechtsradikalismus und Rassismus resistent zu machen? – Oder geht es doch nur um ein „Erinnerungstheater“ (Max Czollek), also um eine, vorgeblich durch nichts zu störende Dorfidylle, wie sie unter Moderation von Böll in dem Heimatfilm „Heideort Steinhorst – Ein Heinrich-Tessenow-Bau in Steinhorst 4. Teil“ auf YouTube bestaunt werden kann? – Freilich ganz ungestört von den sie umgebenden Wirren und Schrecken des wilhelminischen Kaiserreichs, das im ersten barbarischen, imperialistischen Weltkrieg endete, der nieder geschlagenen Räterevolution, der von rechten und großbürgerlichen Kreisen von Beginn an bekämpften Weimarer Republik, die schließlich in der antisemitischen NS-Diktatur mit ihren Raub- und Vernichtungsfeldzügen gegen Regime-Gegner, die jüdische Bevölkerung Europas, die slawischen Völker und europäischen Nachbarn, schlussendlich in einem Weltbrand mit verdientem Untergang des 3. Reiches gipfelte.

Wir haben den wirklichen Tessenow-Spezialisten, Prof. Marco de Michaelis, kein zweites Mal als Experten nach Steinhorst einladen müssen. Denn er leuchtete bereits 1991, nur drei Jahre nach seinem Besuch bei Bürgermeisterin Hanke, und seiner Identifizierung des „Hauses der Gemeinde“ als „Tessenow-Bau“, die ideologische Basis Tessenows und dessen zwiespältige Rolle im Vorfeld und während des 3. Reichs in seinem umfassenden Werk: „Heinrich Tessenow 1876-1950, Das architektonische Gesamtwerk“ aus.

Theodor Böll sagt selbst, dass er spätestens seit 1991 das Werk von Prof. Marco de Michaelis kennt und damit auch zwangsläufig dessen Enthüllungen über Tessenow:

Etwas später, 1991 erschienen dann die Ergebnisse der 10-jährigen Forschungsarbeit von Marco de Michaelis in Buchform. Und im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main fand eine sehr große Tessenow-Ausstellung statt …

Theodor Böll, zitiert aus dem YouTube-Film: Heideort Steinhorst – Ein Heinrich-Tessenow-Bau in Steinhorst 4. Teil“.

De Michaelis beschreibt auch, dass der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels noch 1933 Tessenow dafür vorgesehen hatte, die, nach Goebbels Meinung, fehlende, „Kunstauffassung des NS“ formulieren zu lassen. Allerdings stellten sich andere NS-Kulturgrößen wie der tumbe Alfred Rosenberg dagegen und bremsten Goebbels (noch) bei Hitler aus.

Diese Sympathien Goebbels für Tessenows Architektur und Denken könnte durchaus erklären, warum sich Goebbels 1944 bei der Erstellung der Liste der ca. 380 „unersetzlichen gottbegnadeten Kulturschaffenden“ eines Tessenow erinnerte und ihn dort dann doch, auch mit dem Segen Hitlers, platzierte. – Theodor Böll allerdings konnte sich aus dieser hohen NS-Auszeichnung für Tessenow in der „Tessenow-Runde“ am 04.05.2023 angeblich so gar keinen Reim machen, trotz seiner tieferen Einblicke auch in dessen dunklere Biografie-Seiten.

Der Status als Gottbegnadeter brachte mannigfaltige Vergünstigungen, wie Zusatzrationierungen, Pensionszuwächse, relativer Schutz vor willkürlichen Verhaftungen und die Befreiung von Kriegs- und Heimateinsatz. Denn die Nazi-Elite hatte – trotz der sich bereits abzeichnenden Niederlage – vielleicht noch ein Quäntchen Hoffnung, einen Wiederaufbau deutscher Städte unter NS-Herrschaft organisieren zu können. Dazu setzte sie offensichtlich auch auf den bereits 1941 emeritierten Professor Tessenow.

Auch eine von Böll Anfang der 90er-Jahre erwähnte Ausstellung des „Deutschen Museums für Architektur“ in Frankfurt beförderte einen differenzierteren Blick auf den von Böll rundum gepriesenen „liberalen“ Tessenow. – Reulecke und Böll ließen über Jahrzehnte nichts auf den „Philosophen unter den Architekten“ kommen, obwohl seine kleinbürgerliche „Philosophie“ schon während seiner Hellerau (und zeitgleich Steinhorst)-Phase durchaus feudalistisch-reaktionäre und national-faschistische Züge aufwies, wozu ihn der Nationalsozialismus gar nicht hat bekehren müssen. – Ging also Cordula Reulecke von der Denkmalpflege Braunschweig Böll auch auf den Leim?

„Architektur und Lebensauffassung der Ideologie der neuen Herrscher verwandt“

Mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten begann für Tessenow eine ambivalente Zeit. Einerseits waren Teile seiner Architektur und Lebensauffassung der Ideologie der neuen Herrscher verwandt, die etwa Ausschnitte aus Handwerk und Kleinstadt in ihren Publikationen zitierten; andererseits wurde sein unveränderter Widerwille, sich parteipolitisch festlegen zu lassen, von einem Regime, das über Parteipolitik ein ganzes Volk zu kontrollieren trachtete, mit Misstrauen und zunehmender Feindschaft beobachtet.

Begleitheft zu einer Ausstellung des Deutschen Architektur-Museums, Frankfurt am Main, 23. Mai bis 10. August 1991 zu: „Heinrich Tessenow, 1876-1950“

Kein ethischer Konflikt mit dem Freiheitskampf der Juden erkennbar?

Einen ethischen Konflikt mit der Simon’schen Stiftung als Bauherrn der jüdischen Ausbildungsstätte in Steinhorst und ihrem damit verbundenen Streben nach Freiheit und Gleichheit als Antwort auf den schon Ende des 19. Jahrhunderts stark zunehmenden politischen Antisemitismus, vermochte Böll nicht zu erkennen und auch nicht zu erwähnen. – Damit bestärkte er jahrzehntelang auch die „Denkmalpflegerin“ Cordula Reulecke, die in ihrer ursprünglichen Denkmalbegründung Simon, seine Stiftung und Schulen nur als ambivalente Statisten führte. Erst 2023 korrigierte sie dieses einseitige Geschichtsbild, ohne allerdings ernsthaft diesen ethischen Konflikt politisch angemessen aufgelöst zu haben.

Lesen Sie diesen Artikel weiter auf der DENK MAL MIT VERSTAND Seite – einfach unten klicken. Dort finden Sie auch im Anschluss unsere zusammenfassende Einschätzung über Tessenows Nähe zum NS als ein ABSTRACT.